Chemotherapie und Infektionsrisiko: Was ist zu beachten?

Dr. med. Albrecht Kretzschmar          
Oberarzt
Klinikum St. Georg in Leipzig   
und MVZ Mitte in Leipzig
internistische Onkologie und Hämatologie im  Klinikum St. Georg    
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MVZ Mitte; Onkologie und Palliativmedizin
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Schwerpunkte
 
Behandlung von soliden Tumoren
Darmkrebs andere gastrointestinale Tumoren

PROTOKOLL

Chemotherapie und Infektionsrisiko: Was ist zu beachten?

Salehi: Kann man durch eine veränderte Ernährung die Blutbildung positiv beeinflussen?

Dr. med. Albrecht Kretzschmar: Leider muss man diese Frage eher verneinen. Es gibt tatsächlich Mangelerscheinungen von Vitaminen (Folsäure oder Vitamin B12 bzw. von Eisen), die dann zu einer Störung der Blutbildung führen können. In diesem Falle ist eine Ergänzung der Vitamine oder des Eisens sinnvoll und nötig. Beim überwiegenden Teil der Blutbildungsstörungen (z.B. auch nach Gabe von Chemotherapie) hat die Ernährung jedoch keinen erwiesenen Einfluss.

Mertens: Ist eine Neutropenie zurückzuführen auf einen Immundefekt oder ist das eine eigene grundsätzliche Krankheit. Ich bin mitten im ersten Chemotherapie-Zyklus und hatte vorher mit so was nie zu tun.

Dr. med. Albrecht Kretzschmar: Unser Immunsystem, was für die Abwehr insbesondere von Infektionen verantwortlich ist, besteht aus verschiedenen Komponenten. Im Allgemeinen versteht man unter Immundefekten Störungen die die Lymphozyten (bestimmte weiße Blutkörperchen) betreffen und etwas mit der spezifischen Abwehr von Infektionen über die Bildung von sogenannten Antikörpern zu tun hat. Diese Art von Immundefekten können erblich (angeboren) sein oder aber sie sind erworben z.B. bei HIV/AIDS. Auch im Rahmen von hämatologischen bösartigen Erkrankungen (Lymphome, chronisch lymphatische Leukämie und dem multiplen Myolom) kann es zu Immundefekten kommen. Ein anderer Teil der Abwehr von Infektionen erfolgt über die sogenannten Neutrophilen Granulozyten, welches andere weiße Blutkörperchen sind. Diese sogenannte Polizei des Blutes kämpft eher unspezifisch gegen Infektionen. Besonders nach einigen Formen von Chemotherapie kommt es häufig zu einem vorrübergehenden, teilweise sehr starken Abfall dieser Neutrophilen. Dies nennt man dann eine Neutropenie. Diese häufigste Form der Neutropenie (nach Chemotherapie) ist also kein eigenes Krankheitsbild sondern eher eine kurzfristige Komplikation nach der Behandlung. Mit den oben aufgeführten Immundefekten (Lymphozyten) hat sie nichts zu tun.

Lulu: Was ist eigentlich genau eine Neutropenie?

Dr. med. Albrecht Kretzschmar: Die neutrophilen Granulozyten sind bestimmte weiße Blutkörperchen die im Knochenmark gebildet werden und dann im Blut zu ihrer Aufgabe zur Verfügung stehen. Normal ist eine Zahl von etwa 2.000 - 5.000 dieser Zellen pro Mikroliter Blut. Wenn z.B. eine Infektion durch Bakterien vorliegt, kann das Knochenmark die Produktion der neutrophilen Granulozyten massiv steigern und im Blut finden wir dann teilweise auch mehr als 10.000 pro Mikroliter. Durch einige Formen von Chemotherapie kommt es zu einer vorrübergehenden starken Hemmung der Bildung von Neutrophilen im Knochenmark und die Zahl derselben im Blut sinkt deutlich ab. Sobald sie unter 2.000 liegt spricht man von einer Neutropenie. Die Endung Penie kommt aus dem Griechischen und bedeutet so viel wie "wenig". Problematisch ist eine Neutropenie, wenn sie besonders ausgeprägt ist, und wenn sie mehr als wenige Tage anhält. Gefährlich wird eine Neutropenie allerdings erst, wenn es in dieser Phase zu Fieber kommt, da die wenigen Neutrophilen dann sehr schnell verbraucht sind und keine weiteren im Knochenmark gebildet werden können. Eine fieberhafte Infektion durch Bakterien oder auch Pilze kann dann in kurzer Zeit lebensbedrohlich werden und muss unbedingt sofort mit starken Antibiotika behandelt werden. Die Kombination aus Neutropenie und Fieber sollte immer sofort antibiotisch behandelt werden, auch wenn eine bakterielle Infektion nicht aktiv nachgewiesen wurde.

Gesa_Grandy: Es ist ja bekannt, dass Chemotherapie die Stammzellen angreift. Könnte man nicht eine Chemotherapie entwickeln, die das nicht macht? Nieren und andere Organe gehen auch nicht durch die Chemo kaputt.

Dr. med. Albrecht Kretzschmar: Die klassischen Chemotherapie-Medikamente sind sogenannte Zellgifte, die insbesondere sich rasch teilende Zellen hemmen bzw. schädigen. Da die Stammzellen im Knochenmark, die die Blutkörperchen bilden, solche sich rasch teilende Zellen sind, werden sie von vielen Chemotherapie-Medikamenten stark geschädigt. Es gibt zwar einige Zytostatika, die nur selten oder kaum zum Abfall der weißen Blutkörperchen führen, aber bei vielen müssen wir weiterhin mit dieser unerwünschten Wirkung umgehen. Organe, die überwiegend aus Zellen bestehen, die sich kaum teilen, werden typischerweise durch keins der Zytostatika beeinträchtigt.

Tara_Karpen: Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass sich da jemand hinsetzt und tausende von einzelnen Blutkörperchen auszählt. Wie funktioniert das?

Dr. med. Albrecht Kretzschmar: Tatsächlich kann man die weißen Blutkörperchen unter dem Mikroskop in Zählkammern zählen. Aber dieses Verfahren ist längst verlassen worden und wird heute von Laborautomaten durchgeführt. Diese pusten flüssiges Blut an einer Zähleinheit vorbei und die Blutkörperchen, welche das Licht brechen, werden aufgrund dieses Brechungsverhaltens erkannt. Auf diese Art und Weise kann man eben auch verschiedene Sorten Blutkörperchen maschinell zählen lassen.

Schullerte: Meine Mutter möchte ganz dringend verhindern, dass die Chemotherapie reduziert wird, weil ihre weißen Blutkörperchen abgestürzt sind. Das ist wohl eher ein zufälliger Befund, weil sie extrem schlapp war. welche Alternativen bieten sich?

Dr. med. Albrecht Kretzschmar: Nach einigen Chemotherapie-Protokollen kommt es regelmäßig zu einem teilweise starken Abfallen der weißen Blutkörperchen (speziell der neutrophilen Granulozyten oder Neutrophilen). Wie bereits auch erwähnt droht dann, dass in einer Phase der Neutropenie zusätzlich Fieber auftritt, was dann lebensbedrohlich werden kann und unbedingt mit Breitspektrum-Antibiotika behandelt werden muss. Medizinisch bedeutsam ist nicht die vorrübergehende Neutropenie sondern die Komplikation Fieber zusammen mit Neutropenie. Je nach Chemotherapie-Protokoll und weiteren Begleitumständen (Zustand des Patienten, Alter, Begleiterkrankungen) kann man das Risiko für die Komplikation neutrophenisches Fieber vorraussagen. Wenn dieses Risiko ein bestimmtes Maß überschreitet, sollte man vorbeugend Medikamente geben (sogenannte Granulozyten, stimmulierende Faktoren, G-CSF). Diese Medikamente senken das Risiko für schwerwiegende Komplikationen (im Klartext neutrophenisches Fieber) deutlich. Die Neutrophilen fallen dann weniger stark ab und auch nur für einen kurzen Zeitraum. Ob bei Ihrer Mutter die Gabe von den Wachstumsfaktoren der richtige Weg ist, muss sie mit ihrem behandelnden Onkologen besprechen. Insbesondere wenn viele verschiedene unerwünschte Wirkungen aufgetreten sind, kann es auch nötig sein, eine Dosis-Reduktion durchzuführen und mit einem Wachstumsfaktor alleine ist das Problem nicht behoben.

Herawestedt: Welche Rolle spielen G-CSF-Spritzen, sind die empfehlenswert?

Dr. med. Albrecht Kretzschmar:

G-CSF ist ein vom Körper gebildetes sogenanntes Gewebshormon, welches künstlich hergestellt werden kann und dann ausschließlich in flüssiger Form als Spritze unter die Haut einem Patienten zugeführt werden kann.

Unser Körper bildet dieses G-CSF z.B. im Rahmen von einer schweren Infektion, um die Blutbildung im Knochenmark anzukurbeln. Bei dem von Außen zugeführten G-CSF gibt man dieses Gewebshormon bereits, bevor die weißen Blutkörperchen abgefallen sind, um die Produktion im Knochenmark zu steigern und noch ehe die Schädigung der Stammzellen oder die Vorläufer durch die Zytostatika aufgetreten ist. Grundsätzlich funktioniert das recht gut und hat selbst auch wenig unerwünschte Wirkungen. Ob es im Einzelfall empfehlenswert ist, hängt - wie weiter oben ausführlich ausgeführt - von dem Risiko für das Problem neutrophenisches Fieber ab. Die Entscheidung, ob man diese G-CSF Spritzen gibt oder nicht, trifft der Behandler zum Zeitpunkt wenn er die Chemotherapie startet. Das Medikament wird ja vorbeugend gegeben und eben nicht erst wenn die Neutrophilenzahl tief im Keller ist.

CurtSchäwel: Erst heißt es die Leukos sinken. Dann immer mehr und ab wann spricht man medizinisch von einer Neutropenie?

Dr. med. Albrecht Kretzschmar: Offiziell spricht man von einer Neutropenie wenn die Neutrophilen unter 2.000 pro Mikroliter liegen. Kritisch wird es jedoch erst unter 1.000 pro Mikroliter und mit einem hohen Risiko für neutrophenisches Fieber sind Werte unter 500 über mehr als wenige Tage verbunden. Die Leukos - eigentlich Leukozyten (griechisch: weiße Zellen) - bestehen im Wesentlichen aus den Lymphozyten und den neutrophilen Granulozyten. Im Normalzustand machen die neutrophilen Granulozyten ungefähr 50% aus. Nach einer Chemotherapie kann es aber sein, dass die Neutrophilen nur noch 10% ausmachen. Deshalb kann auch eine Leukozytenzahl von 2.000 durchaus mit einer schweren Neutropenie einhergehen (im Falle von 10% Neutrophilen wären das dann nur 200).

Marvin-Heck: Sicherlich gibt es eine Risikobewertung/Abwägung, die ja meist in Prozenten ausgedrückt wird. Wie hoch ist der Prozentsatz derer, die unter einer Chemotherapie eine Neutropenie entwickeln? Ich frage deshalb, weil mein Vater mehrere Anzeichen dafür hat, wie z.B. Zahnfleischbluten, extreme Müdigkeit. Ich habe den Eindruck, das wird nicht regelmässig kontrolliert. Kann ich auf derartige Untersuchungen des Blutes bestehen?

Dr. med. Albrecht Kretzschmar: Diese Frage ist ohne die genauen Umstände zu kennen nur schwierig zu beantworten. Wie bereits mehrfach ausgeführt, haben bestimmte Chemotherapie-Protokolle ein definiertes Risiko für neutrophenisches Fieber. Das Risiko für eine leichte Neutropenie ohne Fieber ist bei den meisten Chemotherapie-Protokollen relativ hoch, aber ohne medizinische Bedeutung. Ich würde sagen, dass ein Patient nicht das Recht hat, auf Untersuchung seines Blutes zu bestehen. Er hat jedoch definitiv das Recht, dass ihm sein Behandler die verschiedenen unerwünschten Wirkungen der Therapie und die Risiken sowie die angemessenen Verfahren zur Beeinflussung dieser Risiken erläutert, und zwar so, dass er er sie versteht. Zahnfleischbluten hat erstmal nichts mit der Neutropenie zu tun sondern eher mit Blutgerinnung oder der Zahl der Blutplättchen. Ausgeprägte Müdigkeit ist eine häufige unerwünschte Wirkung viele Chemotherapie-Medikamente. Insbesondere bei schwerer Neutropenie kann ausgeprägte Müdigkeit vorliegen, sie kann jedoch auch ohne jede Neutropenie auftreten.

Sierkje: Warum greift Chemotherapie blutbildende Zellen, aber nicht das Gehirn an?

Dr. med. Albrecht Kretzschmar: Zwei relevante Gründe: Erstens teilen sich Gehirnzellen so gut wie gar nicht und sind deshalb wenig empfindlich für Chemotherapie und darüber hinaus gehen die meisten Zytostatika gar nicht ins Gehirn, da dieses durch die sogenannte Blut-Hirn-Schranke vom Blut getrennt ist.

OLIAS: Nach einer Darmkrebsoperation habe ich immer mal wieder, aber nicht durchgehend Blut aus dem After. Wenn man zu wenig Leukozyten hat, ist dann auch die Blutstillung gestört. Könnte das ein Hinweis darauf sein?

Dr. med. Albrecht Kretzschmar: Blut im Stuhl oder Blut am After kann zum einen auf Verletzungen hindeuten, zum anderen auf eine beeinträchtigte Blutgerinnung - oder auch beides. Die Zahl der weißen Blutkörperchen hat mit der Blutgerinnung zunächst einmal nichts zu tun. Im Rahmen einer Neutropenie kann es aber gehäuft zu Infektionen kommen und diese wiederum könnten zu einem Problem mit einer Blutung führen, ohne dass die Blutgerinnung beeinträchtig ist. In jedem Fall sollten Sie dieses Symptom mit Ihrem Behandler besprechen und ggf. sollte der eine Untersuchung des Afters und ggf. auch des Darmes veranlassen.

Sarah: Was ist mit Wachstumsfaktoren für Blutkörperchen? Wann sind die sinnvoll, wann unvermeidbar? Viel hilft viel, oder lieber weniger und gleichmäßiger?

Dr. med. Albrecht Kretzschmar: Wie bereits oben ausgeführt gibt es sehr wirksame Wachstumsfaktoren, die die Bildung von weißen Blutkörperchen (speziell der neutrophilen Granulozyten) im Knochenmark anregt. Sinnvoll kann es sein, diese direkt nach der Chemotherapie als Spritze unter die Haut zu geben, noch ehe die weißen Blutkörperchen überhaupt abfallen. Wann die Bedingungen für eine sogenannte prophylaktische Gabe gegeben sind müssen Sie mit Ihrem Behandler besprechen. Unvermeidbar bzw. klar begründet ist die Gabe wenn das Risiko für neutrophenisches Fieber sehr hoch ist, oder nach einer sogenannten Hochdosis-Chemotherapie oder aber wenn neutrophenisches Fieber nach Chemotherapie aufgetreten ist und man eine Dosisreduktion der Chemotherapie nicht vornehmen möchte. Die Dosierung der Medikamente ist gut belegt und klar vorgegeben, insofern würde ich sagen, viel hilft viel oder weniger und gleichmäßiger trifft hier nicht zu. Alles ist sehr gewissenhaft in großen Studien untersucht und wir können uns auf die Ergebnisse derselbigen stützen.

Jan_Scholz2: Meine Frau hat schon seit sie Kind ist Probleme mit den Granulozyten. Die onkologische Abteilung, wo sie auf eine Chemotherapie vorbereitet wird (Brustkrebs) weiß das. Was ist jetzt der richtige Weg in diesem besonderen Fall?

Dr. med. Albrecht Kretzschmar: Dies ist eine schwierige Frage. Es gibt relativ selten Formen von Neutropenie, die angeboren sind. Wenn ein derartiges Krankheitsbild bei Ihrer Frau tastächlich vorliegt, so gibt es sicherlich kein Patentrezept, wie man dann mit Chemotherapie umgehen sollte. Auf jeden Fall sollte es von einem hämatologisch erfahrenen Arzt beurteilt werden. Ich sage dies deshalb, da ja sehr viele Brustkrebspatientinnen in Deutschland von Gynäkologen behandelt werden, die sich anders als Hämatologen nicht tagtäglich mit Veränderungen des Blutbildes auseinander setzen.

Stoll3: Gibt es Auswertungen darüber, wie gut Chemotherapien wirken und wie viel „gesundes“ dabei kaputtgeht? Ich denke da gerade an das Blut, was ja offensichtlich nicht selten schwer in Mitleidenschaft gezogen wird und zu neuen Krankheiten führt, wenn der Immunschutz sinkt.

Dr. med. Albrecht Kretzschmar: Eine schwierige Frage, in der Sie einige Dinge durcheinander werfen, die zum Teil richtig sind, zum Teil aber auch nicht zusammen gehören. Für die meisten Chemotherapien wurde in großen Studien nachgewiesen, was sie positives erreichen können. Es gibt Chemotherapien, mit denen man Krebserkrankungen heilen kann (sogenannte kurative Chemotherapie z.B. bei der Hodgkin-Krankheit oder bei Hodenkrebs), dann gibtes sogenannte palliative Chemotherapien, bei der es um Linderung von Symptomen oder Verlängerung des Überlebens geht, und sogenannte adjuvante Chemotherapien, die nach einer Operation durchgeführt werden und die Chance auf Heilung verbessern.  Ob und in welchem Ausmaß diese Ziele erreicht werden, haben die angesprochenen großen Studien zweifelsfrei bewiesen. Auch bei den unerwünschten Wirkungen kann man auf die Ergebnisse dieser Studien zurückgreifen. Eine anhaltende Beeinträchtigung des Immunsystems durch eine Chemotherapie tritt erfreulicherweise nur sehr, sehr selten auf. Bei vielen Chemotherapien kommt es vorrübergehend zum Absinken von bestimmten weißen Blutkörperchen (die sogenannten Neutrophilen), was dann im Falle einer zusätzlichen Infektion zu einem schwerwiegenden Krankheitsbild werden kann. Hierüber wurde weiter oben viel gesprochen. Leider gibt es tatsächlich auch eine Reihe von Spätkomplikationen der Chemotherapie, welche zum Glück jedoch auch eher selten auftreten. Für jede spezielle Situation und jede spezielle Chemotherapie ist das Ausmaß des Risikos relativ gut bekannt. All diese auch selten unterwünschten Wirkungen müssen im Rahmen eins Aufklärungsgesprächs erwähnt werden. Als Beispiel sei noch einmal erwähnt die Behandlung der sogenannten Hodgkin-Krankheit. Diese Erkrankung wird bei fast allen Patienten dauerhaft geheilt. Allerdings kommt es bei einem nicht unerheblichen Teil der Patienten zu Spätkomplikationen wie z.B. Zeugungsunfähigkeit, Herzschäden oder auch gehäuften Auftreten von anderen bösartigen Erkrankungen. Deshalb muss die Aufklärung über dies Komplikationen einen bestimmten Stellenwert haben. Bei der sogenannten palliativen Chemotherapie bei Patienten, welche aufgrund der ernsten Prognose leider nur noch eine begrenzte Lebenserwartung haben, spielen Spätkomplikationen nur eine untergeordnete Rolle.

Messmer: Der Onkologe meiner Frau lehnt eine vorbeugende Behandlung zum Schutz und Erhalt der Leukozyten während der Chemotherapie explizit ab. Das hat uns sehr überrascht. Gibt es dafür einen Grund? Warum muss das Kind erst in den Brunnen fallen?

Dr. med. Albrecht Kretzschmar: Wie bereits ausgeführt, ist die Gabe der hochpotenten und gut untersuchten Wachstumsfaktoren, die das Ausmaß einer Neutropenie beeinflussen, als Prophylaxe unmittelbar nach einer Chemotherapie nur gerechtfertigt, wenn das Risiko für neutrophenisches Fieber ein bestimmtes Maß übersteigt. Diese Medikamente sind auch nur für die entsprechende Situation zugelassen. Da ich weder das Krankheitsbild noch das Behandlungschema Ihrer Frau kenne, kann ich nicht beurteilen ob Wachstumsfaktoren hier sinnvoll und zugelassen wären. Ich denke, der behandelnde Onkologe wäre bereit, Ihnen zu erklären, warum er die Medikamente nicht geben möchte.

Kleinmann: Wenn man als gesund gilt, wie hoch muss die Anzahl neutrophiler Granulozyten im Blut sein? Ist die auch abhängig von der Größe eines Menschen.

Dr. med. Albrecht Kretzschmar: Wir hatten die Zahlen weiter oben bereits mehrfach erwähnt, wenn man vollkommen gesund ist, so sollte die Zahl der neutrophilen Granulozyten bei etwa 2.000 pro Mikroliter Blut liegen. Sobald sich das Knochenmark veranlasst sieht, bei gesteigertem Bedarf die Produktion hochzufahren (bakterielle Infektion aber auch Stress oder auch bei chronischen Rauchern) liegt die Zahl über 3.000 vielleicht sogar über 10.000. Das entscheidende ist, dass die Produktion gesteigert werden kann.

Dr. med. Albrecht Kretzschmar: Die Größe und Körpergewicht spielen für die Normalwerte keine Rolle, auch Alter und Geschlecht spielen keine Rolle, wobei ältere Menschen bei gesteigertem Bedarf (Infektionen) meist weniger gut die Produktion hochfahren können. Man kann also keineswegs sagen, je mehr Granulozyten desto besser. Auch zu viele Granulozyten können Hinweis auf eine Erkrankung sein.

Helfsgott: Wie entsteht eine Neutropenie als Folge einer Chemo? Verbraucht der Körper so viel mehr Granulozyten?

Dr. med. Albrecht Kretzschmar: Die Zahl der Granulozyten pro Mikroliter, die bei einer Blutabnahme gemessen werden, ist tatsächlich eine Folge von Bedarf, Verbrauch und Produktion. Wenn die Produktion schwächelt (Schädigung der Stammzellen und Vorläuferzellen im Knochenmark durch die Chemotherapie) so geht die Zahl der Granulozyten herunter. Besonders dramatisch fällt sie dann ab, wenn gleichzeitig der Verbrauch gesteigert ist. Dies ist der Fall bei einer bakteriellen Infektion. Bei einer solchen verbraucht der Körper, wie Sie richtig vermutet haben, Granulozyten. Gerade bei älteren Menschen und bei einer schweren bakteriellen Infektion, kann es auch zu einem dramatischen Abfall der Granulozyten ganz ohne vorherige Chemotherapie kommen. Hier kam es dann zu einem Missverhältnis aus Bedarf und Produktion, ohne dass die Produktion durch eine Chemotherapie geschädigt worden war.

Margi_Klein: Warum bekommt man nicht automatisch mit der Chemotherapie eine Vorbeugung damit die Leukozyten nicht runtergehen? Könnte mir denken, es ist einfache einfacher, sie oben zu halten, als sie von unten wieder hoch zu bringen.

Dr. med. Albrecht Kretzschmar: Mit den Wachstumsfaktoren, die unmittelbar nach der Chemotherapie gegeben werden, kann man das Ausmaß des Abfalls mildern und die Dauer der Phase in der die Neutrophilen kritisch niedrig sind. Da nicht die niedrige Zahl der Neutrophilen ein bedrohliches Krankheitsbild ist, sondern nur die Komplikation neutrophenisches Fieber, geht es nicht darum auf jeden Fall ein Neutropenie zu vermeiden, sondern es geht darum die Komplikation neutrophenisches Fieber möglichst selten zu machen. Sie sollten die Gabe von Wachstumsfaktoren mit Ihrem behandelnden Onkologen besprechen. Er wird Ihnen sicher gerne erklären, ob Ihr spezielles Risiko (Krankheitsbild Behandlungsschema) eine vorbeugende Gabe der Wachstumsfaktoren rechtfertigt oder nicht.

anonym: Man hat mir gesagt, worauf ich achten soll, um mein Immunsystem stark zu halten während der Chemo. Was ich nicht verstehe ist, dass diese aggressiven, aber notwendigen Krebssubstanzen sich negativ auf weiße, aber nicht auf rote Blutkörperchen auswirken. Könnte der Experte da mal was zu sagen? Danke.

Dr. med. Albrecht Kretzschmar: Alle Blutzellen werden im Knochenmark von sogenannten Vorläuferzellen oder Stammzellen gebildet: die roten Blutkörperchen, die Blutplättchen und die verschiedenen Typen der weißen Blutkörperchen. Die roten Blutkörperchen haben eine Lebensdauer von etwa 3 Monaten. D.h. wenn man ihre Bildung hemmt, so wird sich das eher auf lange Sicht bemerkbar machen. Dies ist auch tatsächlich der Fall. Viele Chemotherapien führen über Wochen oder Monate tatsächlich auch zum Abfall der roten Blutkörperchen. D.h. man kann nicht sagen, dass sie sich nicht auf die roten Blutkörperchen auswirken. Die weißen Blutkörperchen hingegen haben eine Lebensdauer von Stunden bis Tagen und müssen - insbesondere wenn ihr Verbrauch angekurbelt wurde - ununterbrochen und im großen Maße nachgebildet werden. Wenn nun die häufig nur wenige Tage anhaltende Hemmung der Vorläuferzellen genau in die Phase eines starken Bedarfs fällt, so werden wir bei den neutrophilen Granulozyten einen massiven Abfall derselben im Blut beobachten und dies kann wie oben ausgeführt im Einzelfall schnell lebensbedrohlich werden.

RenaRiemer: Ich hatte während der Chemotherapie erhebliche Probleme mit der Mundschleimhaut, deshalb fiel erstmal nicht auf, dass ich an unterschiedlichen Stellen Entzündungen im Mund hatte, die ein Hinweis sind, dass bei mir was mit der Blutbildung nicht in Ordnung ist. Ich fühlte mich da schlecht begleitet. Falls ich einen Rückfall bekomme, wie verhalte ich mich dann richtig?

Dr. med. Albrecht Kretzschmar: Die Frage ist schwierig zu beantworten, wenn ich weder Ihr Krankheitsbild noch Ihr Chemoprotokoll kenne. Einige Zytostatika führen zu einer direkten Schädigung der Schleimhäute, auch ohne dass eine Neutropenie vorliegt. Manchmal entstehen auch z.B. durch Kortisonpräparate Pilzbeläge auf den Schleimhäuten. Jede Form der Mundschleimhautentzündung kann in Kombination mit Neutropenie schnell sehr problematisch werden. Umgekehrt steigert auch eine über viele Tage anhaltende Neutropenie das Risiko für Schleimhautinfektionen und damit auch für Probleme an der Mundschleimhaut erheblich. Sie sollten in jedem Falle, falls eine Chemotherapie erforderlich ist, Ihre Probleme intensiv mit Ihrem Behandler besprechen.

Nemax: Warum bekomme ich Spritzen, gegen meine schlechten Blutwerte? Ich würde Tabletten bevorzugen. Gibt es die nicht, oder steht mein Onkologe auf Spritzen?

Dr. med. Albrecht Kretzschmar: Nein, es gibt keine Tabletten. Die Wachstumsfaktoren sind große komplizierte Eiweiße. Große komplexe Eiweißmoleküle würden, wenn wir sie in Tablettenform dem Magen-Darm-Trakt zuführen, aufgespalten werden in ihre Bestandteile und ihre Wirkung verlieren. So kann man ja auch z.B. Insulin leider nicht in Tablettenform geben, sondern muss es immer spritzen.



Ende der Sprechstunde.